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Giorgio
de Chirico
1888-1978
»Auf der Straße vor einem alten Gebäude stand ein Brett mit einem
Plakat. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es aussah, aber die
Worte ›Mostra dell’ Chirico‹ sind tief in mir haften geblieben. Es muss
im Herbst oder im Winter 1961 gewesen sein. Ob es noch Vormittag war
oder viel später, weiß ich nicht mehr. [...]
Da ist endlich ein altes Haus, seine große gelbe Fassade hat mit dem
Teufel aus dem Klassenzimmer Borrominis schon vor längerer Zeit so
glücklich zusammengearbeitet, dass ein aufregender Schlummer über die
Fensteröffnungen gefallen ist. Dieses Gebäude schläft, man kann es ohne
Angst betreten, man ist absolut sicher, keinem Menschen zu begegnen.
Eine große Treppe, breit und gerade, steigt auf. Kein Mensch kann auf
die Idee kommen, einzelne Grafen seien hier je zuvor hinauf- und
hinabgestiegen, nein, dieses Haus ist immer missbraucht worden.
Schwarzhemden sind hier im Dauerlauf mit Fanfarenstößen in umgebaute
Büros gestürzt. Vor vierzig Jahren ist hier gerast worden, das Erwachen
des Hauses ist auch jetzt noch jeden Augenblick möglich, aber ohne
Menschen. Irgendein Advokat weiß darüber Bescheid, er ist gerade
unterwegs, sein Spazierstock erzittert, weil der Lump kommt, der Neffe.
Oben öffnet sich ein trüber Saal. Ein See von einem Saal. Die Ufer sind
dunkel. Die Künstlichkeit von gemaltem Schilf, in den Wänden lauernde
Schwäne haben die Atmosphäre genügend aufgeweicht. Eine Paralyse des
Geschmacks hat die Architektur wie eine Wanze zertreten. Man ächzt,
weil man schwimmen möchte in dem Ausbruch der tausend Stimmungen dieses
von selber entstehenden Wassers. Hier ist niemand zuhause. Hier kann es
keine Beobachter geben. Jeder schlechte Rechtsanwalt könnte vor Gericht
den Exhibitionisten, der hier nackt und verwirrt umherginge,
freibekommen. Nichts Menschliches, würde er sagen, hat an diesem Ort
die sittliche Kraft genügend gestärkt. Früher tagte hier das
Ehrengericht der Schwarzhemden. Hierhin hatte man Chirico verbannt.
Den späten Chirico, den Erlöser aller, die lieber mit einem Tizian
unter dem Arm untergehen wollen als mit etwas Echtem von Beuys in einer
Konservendose weiterleben.
Ich kann mich an ein fettes Silber, an die funkelnde Marmelade
erinnern, die der Meister in den Anfällen eines beleidigten göttlichen
Kochs erfunden hat, um die mit Asche vermischte Margarine der
Zeitgenossen für immer zu bestrafen.
Es war eine herzzerbrechende Tragödie. Ein gebrochenes, fettes Funkeln
lag über dem ganzen Saal. Saturn und Venus hatten sich in den Bildern
vereinigt. Chirico hat in seinen späten Werken die Ausstattung von
Gastmählern unternommen, aber keine manieristischen Grafen finden
können, daran teilzunehmen. Das ist seine tragische Größe, dem Pinsel
und der Farbe ein letztes furchtbares Recht einzuräumen. Seine
altertümliche Bosheit. Wenn die Mächte der allwissenden Arroganz, immer
noch fußend auf dem naiven Idiotismus eines Friseurs wie Muratti,
gestürzt sein werden, oder falls man die Dämonisierung des menschlichen
Lebens nicht mehr der Kunst allein überlässt, sondern einer grauen
Jacke, deren Knöpfe uns mit jedem Pulsschlag irgend einem
Sicherheitsdienst anschließen, werden wir die Saturnalien dieses
Spätwerks immer noch ehren. Denn entweder wird man wieder malen und die
göttliche Marmelade Chiricos als Verzweiflungsausbruch vor der Barbarei
des magischen Fetischismus betrachten, oder man wird an den jetzt noch
nicht errechenbaren Orten, wo die Abhörsysteme versagen, hinter
vorgehaltener Hand die letzten Zeichen der Bildung unter Künstlern mit
den Worten ›Giorgio de Chirico!‹ bezeugen.
[...]
Ich habe de Chirico immer geliebt. Seine Selbstbildnisse sind mir seit
meiner Jugend bekannt. Das milde Haupt eines salbenspendenden
Alchimisten in alter höfischer Tracht war mir vollkommen gegenwärtig.
Aber ich wusste bis zu diesem Augenblick nicht, bis zu welchem Grade
der Treue er sich selber zu malen verstand.
Ich sage es voller Liebe und ohne die Spur eines verächtlichen
Hintergedankens, er sah aus wie ein gewaltiger Hase. Als ich mich
umwandte, erkannte ich ihn sogleich. Das Gesicht war vollkommen das,
was immer schon immer kannte, nur war eben der Zug, den das Leben
mitbringt und nicht die Malerei, von einer ebenso kindlichen wie
würdevollen Geistigkeit. Ein ewiger Strom der Inspirationen gab den
Zügen etwas Leichtsinniges. Die Macht seines Geistes überhauchte aber
zugleich das Angesicht mit dem großzügigen Eigensinn dessen, der nicht
bloß glaubt, er wisse von den großen Geheimnissen der Gestaltung mehr
als andere, sondern den bittere Erfahrungen gelehrt hatten, das es so
sei. Auf diese Weise entstand der weiche und mächtige Zug, der den
inspirierten Menschen erspart, wie der Vogel Voltaire in die Welt zu
stechen. Wer geben muss, bis er alt ist, kann sich in den Gewissheiten
nicht abschließen, er bleibt immer ein wenig an den Zirkus gebunden,
von einer Harmlosigkeit, die auch die tiefsten Erfahrungen nicht
aufheben können. Wer das ewig Unbezahlbare schafft, bleibt zugleich
auch immer ein Bettler. Sein dunkler Mantel war wie von fremden Händen,
aber mit dem fürsorglichen Ärger einer Mutter zugeknöpft. Ich erinnere
mich sogar an zwei verschieden farbige Knöpfe und an einen langen
Wollschal. Diese Dinge verband eine gewisse Gleichgültigkeit mit der
romanischen, etwas ängstlichen Berücksichtigung leiblicher Zufälle, und
das auf eine so ganz unsentimentale Weise, dass der Eindruck einer
eigensinnigen Selbständigkeit vollständig gewahrt blieb. Man hätte auch
von Würde und Armut sprechen können, wenn nicht die eindeutige Größe
des Ausdrucks den zugleich etwas seltsamen Verdacht, hier sei ein
verborgener Weltmann verkleidet aus seinem selbst gewählten Käfig
gestiegen, genährt hätte. Man fühlt unbedingt, auch durch die Erregung,
die diese Begegnung hervorruft, man dürfe ein solches Wesen aus
egoistischen Motiven weder mit Fragen fangen noch mit Bitten verfolgen.
Dies war auch der Grund, weshalb ich ihn trotz des kurzen und von ihm
sehr freundlich geführten Gespräches nicht bat, ihn in seinem Atelier
aufsuchen zu dürfen. Meine alte und lange gehegte Zuneigung hat
hierdurch für immer etwas Brennendes und Lebendes angenommen.
Wie alle Menschen, die ihre Gedanken und inneren Absichten durch
formende Gewohnheiten nicht unterdrücken, sprach er, jedenfalls
scheinbar, vollkommen vertraulich und offen. Ich weiß nicht mehr, was
ich selber gesagt habe. [...]
Aus den Worten Chiricos sprach der Hass eines Propheten, der erkannt
hat, dass es ebenso viel Sinn hat, der ganzen Welt etwas zu predigen,
was sie nicht wissen will, wie einer gänzlich unbekannten
Straßenbekanntschaft die größten Geheimnisse mitzuteilen. Man könnte
das eine Art von Flaschenpost nennen.
›Sie kennen doch Scheinkanonen‹, sagte er. ›Es sind Röhren aus Pappe.
Man stellte sie manchmal auf, um die Flugzeuge zu täuschen. Diese
Scheinkanonen gibt es jetzt überall, die ganze moderne Kunst ist eine
Scheinkanone.‹ In der Mitte des Saales stand ein kleiner Tisch. Es
lagen postkartengroße Fotografien darauf, die sehr glänzend waren. Es
kam mir so vor, als sei er, ohne einen vernünftigen Grund,
außerordentlich stolz auf sie.
›Man muss Tizian sehen. Gehen Sie zu Tizian.‹ Unter seinen Fingern
wölbten sich die Ansichten dicker Weiber in einem rasend weggezogenen
Kriegswagen. Ein ebenso dickes Pferd riss sie durch den Schlamm der
Malerei. Er schrieb seinen Namen auf die Rückseite und schenkte mir
zwei davon.−
Es ging etwas von ihm aus, das mich an eine Säule erinnerte. Eine
Säule, die sich einen Anzug angezogen hatte. Es gibt Bilder von ihm,
auf denen sich Giganten mit der Architektur von Mauern oder Steinwällen
verbinden. So ähnlich kam er mir damals vor, als er an dem Tischchen
stand und mit einem Kugelschreiber unterschrieb....«
Paul
Mersmann in: Chirico |