Paul Mersmann [*1929]
Paul Mersmann: Werkverzeichnis
P.M.
Personen

Giorgio de Chirico
Herbert Häfner
Gustav René Hocke
Karl Hofer
Peter Schermuly

Giorgio de Chirico
1888-1978


»Auf der Straße vor einem alten Gebäude stand ein Brett mit einem Plakat. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es aussah, aber die Worte ›Mostra dell’ Chirico‹ sind tief in mir haften geblieben. Es muss im Herbst oder im Winter 1961 gewesen sein. Ob es noch Vormittag war oder viel später, weiß ich nicht mehr. [...]
Da ist endlich ein altes Haus, seine große gelbe Fassade hat mit dem Teufel aus dem Klassenzimmer Borrominis schon vor längerer Zeit so glücklich zusammengearbeitet, dass ein aufregender Schlummer über die Fensteröffnungen gefallen ist. Dieses Gebäude schläft, man kann es ohne Angst betreten, man ist absolut sicher, keinem Menschen zu begegnen. Eine große Treppe, breit und gerade, steigt auf. Kein Mensch kann auf die Idee kommen, einzelne Grafen seien hier je zuvor hinauf- und hinabgestiegen, nein, dieses Haus ist immer missbraucht worden. Schwarzhemden sind hier im Dauerlauf mit Fanfarenstößen in umgebaute Büros gestürzt. Vor vierzig Jahren ist hier gerast worden, das Erwachen des Hauses ist auch jetzt noch jeden Augenblick möglich, aber ohne Menschen. Irgendein Advokat weiß darüber Bescheid, er ist gerade unterwegs, sein Spazierstock erzittert, weil der Lump kommt, der Neffe.
Oben öffnet sich ein trüber Saal. Ein See von einem Saal. Die Ufer sind dunkel. Die Künstlichkeit von gemaltem Schilf, in den Wänden lauernde Schwäne haben die Atmosphäre genügend aufgeweicht. Eine Paralyse des Geschmacks hat die Architektur wie eine Wanze zertreten. Man ächzt, weil man schwimmen möchte in dem Ausbruch der tausend Stimmungen dieses von selber entstehenden Wassers. Hier ist niemand zuhause. Hier kann es keine Beobachter geben. Jeder schlechte Rechtsanwalt könnte vor Gericht den Exhibitionisten, der hier nackt und verwirrt umherginge, freibekommen. Nichts Menschliches, würde er sagen, hat an diesem Ort die sittliche Kraft genügend gestärkt. Früher tagte hier das Ehrengericht der Schwarzhemden. Hierhin hatte man Chirico verbannt.
Den späten Chirico, den Erlöser aller, die lieber mit einem Tizian unter dem Arm untergehen wollen als mit etwas Echtem von Beuys in einer Konservendose weiterleben.
Ich kann mich an ein fettes Silber, an die funkelnde Marmelade erinnern, die der Meister in den Anfällen eines beleidigten göttlichen Kochs erfunden hat, um die mit Asche vermischte Margarine der Zeitgenossen für immer zu bestrafen.
Es war eine herzzerbrechende Tragödie. Ein gebrochenes, fettes Funkeln lag über dem ganzen Saal. Saturn und Venus hatten sich in den Bildern vereinigt. Chirico hat in seinen späten Werken die Ausstattung von Gastmählern unternommen, aber keine manieristischen Grafen finden können, daran teilzunehmen. Das ist seine tragische Größe, dem Pinsel und der Farbe ein letztes furchtbares Recht einzuräumen. Seine altertümliche Bosheit. Wenn die Mächte der allwissenden Arroganz, immer noch fußend auf dem naiven Idiotismus eines Friseurs wie Muratti, gestürzt sein werden, oder falls man die Dämonisierung des menschlichen Lebens nicht mehr der Kunst allein überlässt, sondern einer grauen Jacke, deren Knöpfe uns mit jedem Pulsschlag irgend einem Sicherheitsdienst anschließen, werden wir die Saturnalien dieses Spätwerks immer noch ehren. Denn entweder wird man wieder malen und die göttliche Marmelade Chiricos als Verzweiflungsausbruch vor der Barbarei des magischen Fetischismus betrachten, oder man wird an den jetzt noch nicht errechenbaren Orten, wo die Abhörsysteme versagen, hinter vorgehaltener Hand die letzten Zeichen der Bildung unter Künstlern mit den Worten ›Giorgio de Chirico!‹ bezeugen.
[...]
Ich habe de Chirico immer geliebt. Seine Selbstbildnisse sind mir seit meiner Jugend bekannt. Das milde Haupt eines salbenspendenden Alchimisten in alter höfischer Tracht war mir vollkommen gegenwärtig. Aber ich wusste bis zu diesem Augenblick nicht, bis zu welchem Grade der Treue er sich selber zu malen verstand.
Ich sage es voller Liebe und ohne die Spur eines verächtlichen Hintergedankens, er sah aus wie ein gewaltiger Hase. Als ich mich umwandte, erkannte ich ihn sogleich. Das Gesicht war vollkommen das, was immer schon immer kannte, nur war eben der Zug, den das Leben mitbringt und nicht die Malerei, von einer ebenso kindlichen wie würdevollen Geistigkeit. Ein ewiger Strom der Inspirationen gab den Zügen etwas Leichtsinniges. Die Macht seines Geistes überhauchte aber zugleich das Angesicht mit dem großzügigen Eigensinn dessen, der nicht bloß glaubt, er wisse von den großen Geheimnissen der Gestaltung mehr als andere, sondern den bittere Erfahrungen gelehrt hatten, das es so sei. Auf diese Weise entstand der weiche und mächtige Zug, der den inspirierten Menschen erspart, wie der Vogel Voltaire in die Welt zu stechen. Wer geben muss, bis er alt ist, kann sich in den Gewissheiten nicht abschließen, er bleibt immer ein wenig an den Zirkus gebunden, von einer Harmlosigkeit, die auch die tiefsten Erfahrungen nicht aufheben können. Wer das ewig Unbezahlbare schafft, bleibt zugleich auch immer ein Bettler. Sein dunkler Mantel war wie von fremden Händen, aber mit dem fürsorglichen Ärger einer Mutter zugeknöpft. Ich erinnere mich sogar an zwei verschieden farbige Knöpfe und an einen langen Wollschal. Diese Dinge verband eine gewisse Gleichgültigkeit mit der romanischen, etwas ängstlichen Berücksichtigung leiblicher Zufälle, und das auf eine so ganz unsentimentale Weise, dass der Eindruck einer eigensinnigen Selbständigkeit vollständig gewahrt blieb. Man hätte auch von Würde und Armut sprechen können, wenn nicht die eindeutige Größe des Ausdrucks den zugleich etwas seltsamen Verdacht, hier sei ein verborgener Weltmann verkleidet aus seinem selbst gewählten Käfig gestiegen, genährt hätte. Man fühlt unbedingt, auch durch die Erregung, die diese Begegnung hervorruft, man dürfe ein solches Wesen aus egoistischen Motiven weder mit Fragen fangen noch mit Bitten verfolgen. Dies war auch der Grund, weshalb ich ihn trotz des kurzen und von ihm sehr freundlich geführten Gespräches nicht bat, ihn in seinem Atelier aufsuchen zu dürfen. Meine alte und lange gehegte Zuneigung hat hierdurch für immer etwas Brennendes und Lebendes angenommen.
Wie alle Menschen, die ihre Gedanken und inneren Absichten durch formende Gewohnheiten nicht unterdrücken, sprach er, jedenfalls scheinbar, vollkommen vertraulich und offen. Ich weiß nicht mehr, was ich selber gesagt habe. [...]
Aus den Worten Chiricos sprach der Hass eines Propheten, der erkannt hat, dass es ebenso viel Sinn hat, der ganzen Welt etwas zu predigen, was sie nicht wissen will, wie einer gänzlich unbekannten Straßenbekanntschaft die größten Geheimnisse mitzuteilen. Man könnte das eine Art von Flaschenpost nennen.
›Sie kennen doch Scheinkanonen‹, sagte er. ›Es sind Röhren aus Pappe. Man stellte sie manchmal auf, um die Flugzeuge zu täuschen. Diese Scheinkanonen gibt es jetzt überall, die ganze moderne Kunst ist eine Scheinkanone.‹ In der Mitte des Saales stand ein kleiner Tisch. Es lagen postkartengroße Fotografien darauf, die sehr glänzend waren. Es kam mir so vor, als sei er, ohne einen vernünftigen Grund, außerordentlich stolz auf sie.
›Man muss Tizian sehen. Gehen Sie zu Tizian.‹ Unter seinen Fingern wölbten sich die Ansichten dicker Weiber in einem rasend weggezogenen Kriegswagen. Ein ebenso dickes Pferd riss sie durch den Schlamm der Malerei. Er schrieb seinen Namen auf die Rückseite und schenkte mir zwei davon.−
Es ging etwas von ihm aus, das mich an eine Säule erinnerte. Eine Säule, die sich einen Anzug angezogen hatte. Es gibt Bilder von ihm, auf denen sich Giganten mit der Architektur von Mauern oder Steinwällen verbinden. So ähnlich kam er mir damals vor, als er an dem Tischchen stand und mit einem Kugelschreiber unterschrieb....«
Paul Mersmann in: Chirico



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