Paul Mersmann [*1929]
Paul Mersmann: Werkverzeichnis
P.M.
Personen

Giorgio de Chirico
Herbert Häfner
Gustav René Hocke
Karl Hofer
Peter Schermuly

Gustav René Hocke
1908-1985


»Unter Zuständen und Bedingungen, die bis heute kaum wirklich verändert sind, stieß ich 1957 auf Gustav René Hockes Die Welt als Labyrinth. Das Buch begeisterte mich sofort, es warf ein magisches Licht auf die reichen Möglichkeiten einer ausgedehnten phantastischen Kunst. Besonders das Verfahren, Worte und Bilder miteinander zu vereinigen und dabei von allen Meistern der Kunst inspiriert zu werden – nur die Wissenschaft darf ja bisher noch immer von den Alten lernen –, eröffnete mir eine neue Zauberwelt künstlerischer Impulse. [...]
Es gelang mir, 1960 zum zweiten Mal nach Rom zu fahren, ja gleichsam zu flüchten. Mitten in dieser fast träumend erlebten Stadt in einem alten Haus, dessen obere Etage vermutlich in den dreißiger Jahren ausgebaut worden war, lag die Redaktion einer Zeitung, deren Druckmaschinen von oben herab durch ein schmales Treppenhaus dröhnten, als druckten hier Hausbewohner gigantische eigene Werke. Immerhin erhielt ich dort, ohne große Umstände, die Adresse Hockes, der wohl auch für diese Zeitung gelegentlich schrieb.
Gegenüber dem Ponte Milvio führte unter Pinien eine Allee hinauf in ein Villenviertel. Sehr genau erinnere ich mich der dunkelgrünen, glänzend lackierten Türe zu Hockes Wohnung. In einer mitgebrachten Mappe trug ich voller Erwartungen eine Anzahl der soeben in Anticoli Corrado angefertigten Lithographien und Radierungen. Gedruckt worden waren sie an der Spanischen Treppe bei »Torcollieri«.
Herr Hocke, eine vornehme und bewegliche Erscheinung, empfing mich sehr freundlich, anfänglich etwas zurückhaltend, später wohl auch amüsiert über meine künstlerischen Ideen, die ihm seltsam genug vorkommen mochten. So korrigierte er etwa den Schriftzug auf einer Lithographie, der ich mit einiger Begeisterung für Klänge und Namen den schwungvollen Titel Il Combattimento del Statione Termini beigefügt hatte, zu ›nella‹ Statione Termini. Es ist allerdings eine meiner ältesten Schwächen, bei fremden Sprachen nur von Klängen und Nachahmungen auszugehen, wohl ahnend, ihrer nie nach eigenem Anspruch sicher zu werden. Über diese Freiheit sprachen wir sogar eine ganze Weile. Er sagte, solange ein Wohlklang die Absicht sei, sei es dem Maler erlaubt, Bemerkungen dieser Art hinzuzufügen, statt sie aus Scheu zu verschweigen. Man müsse auch an eine künftige Gelehrtenwelt denken, die für jede Bemerkung dankbar sei. Ich fand, dies sei keineswegs ironisch, sondern eher liebenswürdig gemeint.
Eine junge Bedienerin mit zierlicher weißer Schürze brachte Tee und Gebäck. Es schien ihm wichtig, über die Zustände jüngerer Künstler in Deutschland mit mir zu sprechen. Hier wusste ich wenig Gutes zu melden. Ich sprach von einem Wall aus neuen Vorurteilen, der die Kunst aus historischen Gründen bedrücke, als sei sie weniger der Zukunft als der Vergangenheit verpflichtet. Man dulde keine Zukunft im Sinne der einst so weit vorausschauenden Kunst, es sei denn innerhalb einer imaginären Vergangenheit, gleichsam wie aus einem Gefängnis heraus in den Hinterhof.
Er schien mir aus bedrückenden eigenen Erfahrungen nicht recht zustimmen zu können. Ich war dergleichen gewöhnt und fand auch später in seinem Buch Im Schatten des Leviathan von dieser zeitgenössischen Stimmung einiges wieder.
Tief beeindruckt aber war ich von einem großen Gemälde über dem Kamin. Ich hielt meine Begeisterung darüber auch nicht zurück. Über flachen Hügeln und grünem Rasen, unterbrochen vom braunen Rot der italienischen Erde, wie man sie auch bei Rom so häufig zu sehen bekommt, sie macht das Gras und die Reben fast doppelt grün, stürzt vom blauen Himmel herab ein Pegasus, der bereits seine Federn verliert. Im Vordergrund erwartet ihn eine Anzahl soeben eingetroffener Photographen. Sie haben ihre Fahrräder hastig beiseite geworfen und ihre Köpfe bereits mit den schwarzen Tüchern bedeckt. Auf den Gestellen sind die Kästen zum Himmel gerichtet und die Photographen dahinter tief gebückt wie Mönche in Adoration. Was für ein Bild!
Hocke klärte mich auf. Er hatte es im Atelier des Malers Gianfilippo Usellini in Mailand 1941 gesehen und gleich gekauft. Er schätzte es sehr und freute sich, nun auch mich in heller Begeisterung zu finden.
Im Laufe des Gesprächs besaß er die Großzügigkeit der älteren Generation, einem offensichtlich armen Künstler und begeisterten Romfahrer von den vorgelegten Arbeiten etwas abzukaufen. Er wählte die Kaltnadelradierung Brutus und Calpurnia und das besagte Combattimento, eine Lithographie. Er sprach dann noch von der Absicht, mich mit dem Surrealisten Fabricio Clerici bekannt zu machen. Einem Künstler, den ich ja bereits durch Hockes Buch kennengelernt hatte. Daraus wurde nichts, weil Hocke, den ich noch zwei oder dreimal besuchte, um den Pegasus sehen zu dürfen, kurze Zeit später an einer Lungenentzündung erkrankte. Ich konnte mich damals in Rom nicht länger halten, meine bescheidenen Mittel gingen zu Ende und ich kehrte mit einigen Radierungen, Lithographien und Bildern nach Deutschland zurück.«
Paul Mersmann

Gianfilippo Usellini (1903-1971): I fotografi. La cattura di Pegaso (1940)
Fabricio Clerici (1913-1993)



Startseite © Mersmann Forum 2008